"Ein vorrangiges Ziel war es, quasi einen Autopiloten für das Übertragungsnetz zu entwickeln. Wie beim Flugzeug hat der Autopilot zwei Kernaufgaben: Erstens das System selbsttätig so zu regeln, dass der Flug oder der Netzbetrieb jederzeit möglichst ruhig und stabil bleibt. Zweitens das frühzeitige Erkennen von Hindernissen oder Störungen, damit diese umfahren oder vermieden werden. Damit erkennt der Operator in der dynamischen Netzleitwarte die Dynamik im Netz – und wir geben ihm Maßnahmen an die Hand, damit er das tun kann, was heute nicht möglich ist: Auf verifizierte dynamische Netzzustände gezielt zu reagieren", sagte Prof. Dr. Rainer Krebs, Principal Expert und Leiter der Fachabteilung für schutz- und leittechnische Systemstudien in der Siemens-Division Energy Management.
Für das Forschungskonsortium, bestehend aus Siemens, den Universitäten Magdeburg, Ilmenau und Bochum sowie den Fraunhofer-Instituten Magdeburg und Ilmenau ist die dynamische Netzleitwarte die Antwort auf eine künftig immer schwieriger zu beherrschende Dynamik im Übertragungsnetz. Schon heute haben sich die Anforderungen stark verändert. Große Kernkraftwerke und Kohlekraftwerke gehen vom Netz. Neue Stromerzeugungsschwerpunkte sind die großen Windparks in der Nordsee. Zudem wird landesweit Strom aus Windenergieanlagen und unzähligen Photovoltaikanlagen dezentral und fluktuierend auf allen Spannungsebenen eingespeist.
Damit der Strom auch unter den erschwerten Bedingungen der steigenden Netzdynamik, längeren Übertragungswegen und größerer Prognoseunschärfe der erneuerbaren Energiequellen noch dort ankommt, wo er gebraucht wird und keine Umwege nimmt, haben die Experten die dynamische Netzleitwarte entwickelt und in Ilmenau prototypisch aufgebaut. Berücksichtigt werden dabei auch die geplanten Hochspannungsgleichstromübertragungsstrecken im Drehstromnetz, die zur Netzstabilisierung beitragen können, wenn die Regelalgorithmen einer intelligenten HGÜ-Leittechnik mit in den Betrieb einer dynamischen Netzleitwarte einbezogen werden. So werden in Ilmenau in einer Echtzeitsimulation komplexe Energiesysteme modelliert und Betriebszustände, wie sie künftig zu erwarten sind, analysiert. Dabei müssen die anfallenden Daten so aufbereitet werden, dass ein einzelner Mensch diese erfassen und sofort handeln kann. Zwar läuft bereits heute in den Netzleitwarten vieles automatisiert ab, die Entscheidungshoheit liegt aber immer noch beim Leitwartenpersonal.
Diese vor allem visuelle Aufbereitung der Daten ist auch deswegen eine Herausforderung, weil die dynamische Netzleitwarte nicht mehr nur konventionelle Messwerte erhalten und auswerten wird. Es geht künftig auch um die Integration zeitsynchroner, hochpräziser Messgeräte, die außer Spannung, Strom und Frequenz auch Phasenwinkel messen können. Damit sind nicht nur ein wesentlich genaueres und dynamischeres Netzabbild im Millisekundentakt möglich, sondern auch wesentlich präzisere Handlungsempfehlungen an das Wartenpersonal. Schon heute müssen die Leitwarten immer häufiger ins Netz eingreifen, um Spannungen, Ströme und Netzfrequenz innerhalb der zulässigen Grenzen zu halten. In Magdeburg und Ilmenau wird daran gearbeitet, dass dynamische Netzleitwarten schon bald die herkömmlichen Leitwarten im Übertragungsnetz ersetzen könnten, um die zunehmende Netzdynamik auch in Zukunft beherrschen zu können.
Das auf drei Jahre angelegte Forschungsprojekt "DynaGridCenter" startete am ersten Oktober 2015 an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Projektpartner sind Siemens, die Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, die Technische Universität Ilmenau, die Ruhruniversität Bochum, das Fraunhofer Institut für Fabrikbetrieb und Automatisierung (IFF) in Magdeburg sowie das Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung, Institutsteil Angewandte Systemtechnik (IOSB-AST) in Ilmenau. Assoziierte Projektpartner sind die Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz Transmission, TransnetBW, TenneT und Amprion. Die Koordination des Verbundprojekts liegt bei Siemens. Das Vorhaben wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie mit rund fünf Millionen Euro gefördert. Insgesamt beträgt das Projektvolumen 7,2 Millionen Euro.